Die materielle und soziale Deprivation ist ein neuer, seit 2021 verwendeter Indikator, der es erlaubt, den Anteil Personen zu messen, die aus finanziellen Gründen auf wichtige Güter, Dienstleistungen und soziale Aktivitäten verzichten müssen (siehe Kapitel Grundlagen und Erhebungen). Er ist eine Weiterentwicklung der bisherigen Quote der materiellen Entbehrung und ersetzt diese sowohl in der Schweiz als auch auf europäischer Ebene. Der Anteil deprivierter Personen bleibt in der Schweiz ähnlich hoch wie bisher. Dennoch sind die neuen Ergebnisse nicht direkt mit der bisherigen Quote der materiellen Entbehrung vergleichbar.
Hauptergebnisse
Im Jahr 2022 befinden sich 4,9% der in der Schweiz lebenden Bevölkerung in einer Situation materieller und sozialer Deprivation. Wie bisher ist die häufigste Art materieller und sozialer Deprivation betrifft die Unfähigkeit, eine unerwartete Ausgabe in der Höhe von 2500 Franken begleichen zu können (18,5% der Bevölkerung). Die beiden nächsthäufigen Deprivationen betrafen den Haushalt als Ganzes. So gaben 9,9% der Bevölkerung an, nicht genügend finanzielle Mittel zu besitzen, um abgenützte Möbel ersetzen zu können, und 9,0% konnten nicht jedes Jahr mindestens eine Woche lang in die Ferien fahren.
Die häufigsten Deprivationen auf individueller Ebene waren der Verzicht auf eine regelmässige kostenpflichtige Freizeitaktivität (8,3%) und die Unmöglichkeit jede Woche etwas Geld für sich selbst ausgeben zu können, ohne ein anderes Haushaltsmitglied fragen zu müssen (6,4%).
Von Armut gefährdete Personen weisen eine deutlich höhere Quote materieller und sozialer Deprivation auf (15,7%) als Personen, die nicht armutsgefährdet sind (2,9%). Personen ab 65 Jahren stellen einen Sonderfall dar: Sie sind einerseits besonders armutsgefährdet, andererseits ist ihre Quote materieller und sozialer Deprivation (2,7%) signifikant tiefer als jene der Gesamtbevölkerung.
Europäischer Vergleich
Die Quote der materiellen und sozialen Deprivation in der Schweiz liegt im Jahr 2022 (4,9%) deutlich unter dem europäischen Durchschnitt (EU: 12,7%). In unseren Nachbarländern liegt sie bei 5,2% in Österreich, 9,0% in Italien, 11,5% in Deutschland und 14,6% in Frankreich. Diese Quote variiert in Europa zwischen 3,7% (Luxemburg) und 36,4% (Rumänien).
Links zu den Resultaten und Publikationen auf europäischer Ebene sind weiter unten in "Weiterführende Informationen" im Abschnitt "Links" aufgelistet.
Materielle und soziale Deprivation der Erwerbstätigen
In der Schweiz waren 2022 3,1% aller Erwerbstätigen von materieller und sozialer Deprivation betroffen. Dies entspricht rund 117'000 Personen.
Folgende Gruppen waren besonders häufig trotz Erwerbstätigkeit von materieller und sozialer Deprivation betroffen:
- Personen, die nicht ganzjährig erwerbstätig waren
- Personen mit betriebsbedingten unregelmässigen Arbeitszeiten
Der Deprivation von erwerbstätigen Personen kommt eine besondere Beachtung zu, da die Ausübung einer Erwerbstätigkeit als Mittel zur Reduktion des Armutsrisikos gilt.
Mehr Informationen zur Armut und der Armutsgefährdung der Erwerbstätigen sind hier verfügbar:
Armut der Erwerbstätigen
Armutsgefährdung der Erwerbstätigen
Europäischer Vergleich
Die Quote der materiellen und sozialen Deprivation der Erwerbstätigen lag 2022 in der Schweiz mit 3,1% deutlich unter dem europäischen Durchschnitt von 8,3%. Von unseren Nachbarländern wies nur Österreich eine tiefere Quote als die Schweiz auf. In Deutschland, Frankreich und Italien lag sie dagegen deutlich höher.
Kinderspezifische Deprivation der Kinder unter 16 Jahren
Diese Daten wurden im Rahmen des europäischen Moduls "Deprivation und Gesundheit der Kinder" erhoben, das Teil der SILC-Umfrage 2021 ist und alle drei Jahre stattfinden wird. Bei den Deprivationen der Kinder handelt es sich um die Angaben von dem Erwachsenen zu den Kindern, der den Haushaltsfragebogen beantwortet hat. Wenn für ein Kind ein Mangel aus finanziellen Gründen festgestellt wurde, wurden alle Kinder im Haushalt in diesem Bereich als depriviert eingestuft. Das Konzept der kinderspezifischen Deprivation gemäss Eurostat unterscheidet sich von dem der materiellen und sozialen Deprivation. Es setzt sich aus 17 verschiedenen Deprivationsitems auf kinderspezifischer und auf Haushaltsebene zusammen, die zum grössten Teil nur innerhalb des Moduls erhoben werden. Gemäss der europäischen Definition gilt ein Kind unter 16 Jahren als kinderspezifisch depriviert, wenn es von mindestens 3 der 17 Bereiche betroffen ist.
Im Jahr 2021 waren 6,4% der Kinder unter 16 Jahren, die in der Schweiz leben von mindestens 3 der 17 kinderspezifischen Deprivationen betroffen, 12,3% waren in mindestens 2 der 17 Bereiche depriviert und 23,4% in mindestens einem Bereich.
Die häufigste Deprivation ist die finanzielle Unfähigkeit eines Haushalts, abgenutzte Möbel zu ersetzen, 13,4% der Kinder leben in einem solchen Haushalt. Gefolgt von Kindern, die in einem Haushalt mit mindestens einer Art von Zahlungsrückstand leben (10,5%). 6,1% der Kinder unter 16 Jahren leben in einem Haushalt, der nicht jedem Kind eine Woche Ferien weg von zu Hause finanzieren kann und 5,5% in einem Haushalt, der nicht jedem Kind eine kostenpflichtige Freizeitbeschäftigung ermöglichen kann.
Europäischer Vergleich
Mit 13,0% liegt die Quote der kinderspezifischen Deprivation im europäischen Durchschnitt doppelt so hoch wie in der Schweiz. Von den Schweizer Nachbarländern hat nur Deutschland (6,0%) eine niedrigere Deprivationsrate. Die europäischen Länder mit den tiefsten Quoten sind Slowenien, Schweden und Finnland, die höchsten Quoten haben Rumänien und Bulgarien.
Kinderspezifische Deprivation nach soziodemografischen Merkmalen
Auch wenn die Quote der kinderspezifischen Deprivation in der Schweiz vergleichsweise gering ist, gibt es deutliche Unterschiede nach soziodemografischen Merkmalen.
Kinder von Eltern mit niedrigem Bildungsniveau, niedrigem Einkommen oder in armutsgefährdeten Haushalten sowie Kinder mit ausländischer Staatsangehörigkeit und Kinder, die in Haushalten von Alleinerziehenden leben, sind deutlich häufiger von kinderspezifischer Deprivation betroffen.
Auch steigt der Anteil deprivierter Kinder mit zunehmendem Urbanisierungsgrad. In dicht besiedelten Gebieten leben Kinder 4,6 Mal häufiger in kinderspezifischer Deprivation als in dünn besiedelten Gebieten.
Die kinderspezifische Deprivation setzt sich aus 17 Bereichen zusammen, von denen 5 auf Haushaltsebene erfragt werden und 12, die spezifisch die Kinder unter 16 Jahren betreffen. Ein Kind unter 16 Jahren gilt als depriviert, wenn es mindestens 3 der 17 Bereiche entbehrt.
Folgende Tabelle erlaubt den Vergleich zwischen den Konzepten materielle und soziale Deprivation und der kinderspezifischen Deprivation.
Materielle und soziale Deprivation | Kinderspezifische Deprivation | |
---|---|---|
Bereiche auf Haushaltsebene (alle Personen im Haushalt, inkl. Kinder) | ||
Ein Auto zur privaten Nutzung haben | x | x |
Keine Zahlungsrückstände | x | x |
In der Lage sein, unerwartete Ausgaben von 2500 Franken innerhalb eines Monats zu tätigen | x | |
In der Lage sein, eine Woche Ferien pro Jahr weg von zu Hause zu finanzieren | x | |
Mind. jeden 2. Tag eine Mahlzeit mit Fleisch, Fisch oder vegetarischer Entsprechung | x | |
In der Lage sein, die Wohnung ausreichend zu heizen | x | x |
Ersetzen von abgenutzten Möbeln | x | x |
Bereiche auf individueller Ebene (nur Personen ab 16 Jahren) | ||
Internetzugang zu Hause (inkl. Smartphone, Tablet etc.) | x | x |
Abgetragene Kleider mit einigen neuen Kleidern ersetzen können | x | |
Besitz von zwei Paar passenden Schuhen, davon ein Allwetterpaar | x | |
Jede Woche etwas Geld für sich selbst ausgeben | x | |
Regelmässige kostenpflichtige Freizeitbeschäftigung | x | |
Mind. einmal pro Monat Freunde oder Familie zum Trinken oder Essen treffen | x | |
Kinderspezifische Bereiche, die die erwachsene Person angegeben hat, die den Haushaltsfragebogen beantwortet hat1 | ||
Einige neue Kleidungsstücke | x | |
Mindestens zwei Paar passende Schuhe | x | |
Mindestens einmal täglich Obst und Gemüse | x | |
Mindestens einmal pro Tag eine komplette Mahlzeit | x | |
Altersgerechte Bücher, abgesehen von Schulbüchern | x | |
Mindestens ein Freizeitgerät für draussen (Velo, Trottinett usw.) | x | |
Mindestens ein altersgerechtes Spielzeug für drinnen | x | |
Regelmässig an einer kostenpflichtigen Freizeitbeschäftigung ausser Haus teilnehmen | x | |
Ein Fest zu speziellen Anlässen | x | |
Manchmal Freund/innen zum Spielen und Essen einladen | x | |
Kostenpflichtige Ausflüge und Veranstaltungen von der Schule | x | |
Eine Woche Ferien pro Jahr weg von zu Hause | x | |
3 von 13 | 3 von 17 |
Entbehrungen von Pflegeleistungen
Hauptergebnisse
Im Jahr 2022 verzichteten 3,6 Mal mehr Personen ab 16 Jahren in der Schweiz aus finanziellen Gründen auf eine notwendige zahnärztliche Pflegeleistung, inbegriffen Dentalhygieniker und Kieferorthopäden, als auf eine notwendige medizinische Pflegeleistung (2,7% bzw. 0,8%).
Am häufigsten von mindestens einer der beiden Entbehrungen von Pflegeleistungen betroffen sind materiell und sozial deprivierte Personen, Arbeitslose, Personen in der französischsprechenden Schweiz und solche mit tiefem Bildungsstand. Der Anteil Personen, der eine Pflegeleistung nicht in Anspruch nehmen kann, sinkt insbesondere in Bezug auf den Zahnarzt mit steigendem Einkommen.
Europäischer Vergleich
Auch in den europäischen Ländern wird häufiger aus finanziellen Gründen auf eine Behandlung beim Zahnarzt verzichtet als auf eine Behandlung beim Arzt. Besonders häufig entbehren Personen in Griechenland und in Lettland eine notwendige zahnärztliche Pflegeleistung.
Wie auch bei der Bevölkerung über 16 Jahren, ist der Anteil Kinder unter 16 Jahren, der aus finanziellen Gründen auf eine
zahnärztliche Pflegeleistung verzichtet, geringer als im europäischen Durchschnitt (1,5% im Vergleich zu 4,4%). Auf medizinische Pflegeleistungen musste in der Schweiz fast kein Kind aus finanziellen Gründen verzichten.
Weiter sind, wie in den meisten europäischen Ländern, Kinder, die armutsgefährdet sind, deutlich häufiger von einem Verzicht von
zahnärztlichen Pflegeleistungen betroffen (inbegriffen Dentalhygieniker oder Kieferorthopäden). In der Schweiz verzichten 3,4% der armutsgefährdeten Kinder auf eine notwendige zahnärztliche Versorgung, verglichen mit 1,1% der nicht armutsgefährdeten Kinder. Die Armutsgefährdung hat in der Schweiz hingegen keinen Einfluss auf den Verzicht von medizinischen Pflegeleistungen bei Kindern.
EU
AT=Österreich, BE=Belgien, BG=Bulgarien, CY=Zypern, CZ=Tschechien, DE=Deutschland, DK=Dänemark, EE=Estland, EL=Griechenland, ES=Spanien, FI=Finnland, FR=Frankreich, HR=Kroatien, HU=Ungarn, IE=Irland, IT=Italien, LT=Litauen, LU=Luxemburg, LV=Lettland, MT=Malta, NL=Niederlande, PL=Polen, PT=Portugal, RO=Rumänien, SE=Schweden, SI=Slowenien, SK=Slowakei.
Andere Länder
CH=Schweiz, ME=Montenegro, MK= Nordmazedonien, NO=Norwegen, RS=Serbien, UK=Ver. Königreich.
Weiterführende Informationen
Grundlagen und Erhebungen
Kontakt
Bundesamt für Statistik Sektion Einkommen, Konsum und LebensbedingungenEspace de l'Europe 10
CH-2010 Neuchâtel
Schweiz
- Tel.
- +41 58 463 61 24